Als Arzt gelobe ich feierlich, mein Leben in den Dienst der Menschlichkeit zu stellen


Dr. med. Ingrid Heimke

Dresden, den 19.04.20

Sächsische Landesärztekammer

Herrn Präsidenten Erik Bodendieck

Schützenhöhe 16

01099 Dresden

Schwerer ethischer Konflikt in der ärztlichen Arbeit aufgrund des „Masernschutzgesetzes“

Sehr geehrter Herr Präsident Bodendieck,

als in Dresden niedergelassene Kinderärztin wende ich mich heute mit der Bitte um Hilfe an Sie.

Wie Ihnen sicher bekannt ist, gilt seit dem 1.3.20 das sogenannte „Masernschutzgesetz“ („MSG“).

Das „MSG“ bringt mich in einen erheblichen Konflikt. Ich weiß nicht, wie ich meine ärztliche Arbeit weiterhin gemäß der Berufsordnung (BO) der Sächsischen Landesärztekammer (SLÄK) ausüben soll, ohne straffällig im Bezug auf das „MSG“ zu werden (§ 20 Absatz 8, 9 und 13 Infektionsschutzgesetz (IfSG)).

In meiner Praxis kläre ich jede Familie umfassend gemäß den Vorgaben der SIKO über alle öffentlich empfohlene Impfungen in Sachsen auf. Auch nach dem 1.3.20 wünschen sich die meisten Eltern in meiner Praxis, welche mehrheitlich beide berufstätig sind, nach Abwägung der STIKO- und SIKO-Empfehlungen für ihr Kind eine MMR-Impfung nach den bisher gültigen Empfehlungen der SIKO. Aufgrund des „MSG“ ist den Kindern berufstätiger Eltern diese Möglichkeit seit dem 1.3. verwehrt.

Der auf die Eltern aufgebaute Druck wird durch die Besonderheiten der Durchführung einer Impfung an mich als ausführende Ärztin weitergegeben.

Ich stehe nun immer wieder vor der Situation, dass mich Eltern aufgrund einer persönlichen wirtschaftlichen Notsituation zur Impfung auffordern und gleichzeitig mündlich mitteilen, dass sie die Impfung zu diesem Zeitpunkt ablehnen.

Diese Situation bringt mich in einen schweren Konflikt zwischen ärztlicher Ethik und Vorgaben des Gesetzgebers.

An einigen Beispielen möchte ich Ihnen kurz den Konflikt zwischen „MSG“ und BO benennen. Konflikte sehe ich unter anderem mit dem ärztlichen Gelöbnis sowie den Paragraphen 2 (allgemeine ärztliche Berufspflichten) und 7 (Behandlungsgrundsätze und Verhaltensregeln) der BO.

Im Gelöbnis steht geschrieben: „Ich werde die Autonomie und die Würde meiner Patienten respektieren. […] Ich werde meinen Beruf nach bestem Wissen und Gewissen, mit Würde und im Einklang mit guter medizinischer Praxis ausüben.[…] Ich werde mein medizinisches Wissen zum Wohle der Patienten und zur Verbesserung der Gesundheitsversorgung teilen. […] Ich werde, selbst unter Bedrohung, mein medizinisches Wissen nicht zur Verletzung von Menschenrechten und bürgerlichen Freiheiten anwenden.“

Der Respekt vor der Autonomie und Würde des Patienten wird in unserer BO zu Recht im ersten Abschnitt deutlich formuliert. Wie kann ich den Respekt vor der Autonomie und Würde meines Patienten leben, wenn ich von einem Betroffenen aufgefordert werde, eine Injektion gegen seinen erklärten Willen durchzuführen? Was ist eine schriftliche Einwilligung unter diesen Bedingungen wert?

Die BO fordert weiter im Gelöbnis eine „gute medizinische Praxis“.

Eine gute medizinische Praxis erfordert, dass die ärztlichen Maßnahmen zielführend sind. Das heißt im Bezug auf das Ziel der Masernelimination, dass die beschlossenen Regelungen eine Wirkung auf die Mehrzahl der an Masern Erkrankten entfalten sollten. Personen unter 18 Jahren stellen nach aktuellen Zahlen des RKI weniger als ein Drittel der Masernerkrankten. Es irritiert mich, dass zu Zwangsmaßnahmen bei der Bevölkerung unter 18 Jahren gegriffen wird, während zum Impfstatus der Erwachsenen in Deutschland laut RKI aktuell noch nicht einmal aussagekräftige Daten vorliegen.

Eine gute medizinische Praxis zeichnet sich auch dadurch aus, dass die Maßnahmen dem aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft entsprechen.

28 Jahre lang wurde in Sachsen nach einem deutlich anderem Impfschema gegen MMR geimpft. Dieses Impfschema lässt sich gut medizinisch begründen (Avidität der MMR-AK, günstiger Boostereffekt im Hinblick auf Röteln und Mumps bei späterer zweiter MMR-Impfung, u.s.w.) und orientiert sich an internationalen Studienergebnissen. Der Erfolg des sächsischen Weges zeigt sich auch in guten epidemiologischen Daten aus Sachsen. Innerhalb eines Beobachtungszeitraums von 18 Jahren (2001 - 2018) gelang es in Sachsen 7x die Masernfallzahl auf unter 0,1/100 000 Einwohner zu bringen. In 15 von 18 Jahren lag die Fallzahl pro 100 000 Einwohner unter dem Bundesdurchschnitt. Bis zum Beweis des Gegenteils gehe ich davon aus, dass die sächsischen Impfempfehlungen im Bezug auf Masern sowie die flankierenden Maßnahmen des ÖGD vorteilhafter für die mir anvertrauten Kinder sind.

Nun werde ich vom Gesetzgeber gezwungen dieses Wissen zu ignorieren und wider besseren Wissens zu einem Zeitpunkt zu impfen, der neben den Problemen im Bezug auf die langfristige Avidität der gebildeten Antikörper auch noch die spezifischen Risiken eines sehr zeitigen Impfzeitpunktes mit sich bringt (Stichwort Lebendimpfung bei noch nicht diagnostiziertem Immundefekt).

Konkret befürchte ich einen gesundheitlichen Nachteil für sächsische Mädchen und Jungen im Vergleich zu den Generationen vor ihnen aufgrund des drastisch geänderten Impfschemas.

In §2 werden die Allgemeinen ärztlichen Berufspflichten genannt.

((1) Der Arzt übt seinen Beruf nach seinem Gewissen, den Geboten der ärztlichen Ethik und der Menschlichkeit aus. Er darf keine Grundsätze anerkennen und keine Vorschriften oder Anweisungen beachten, die mit seiner Aufgabe nicht vereinbar sind oder deren Befolgung er nicht verantworten kann. (2) Der Arzt ist verpflichtet, seinen Beruf gewissenhaft auszuüben und dem ihm im Zusammenhang mit seinem Beruf entgegengebrachten Vertrauen zu entsprechen. Er hat dabei sein ärztliches Handeln am Wohl der Patienten auszurichten. Insbesondere darf er nicht das Interesse Dritter über das Wohl der Patienten stellen.“

In diesem Punkt ist ein Arztbild niedergeschrieben, an welchem für mich keine Abstriche möglich sind, wenn die Arzt-Patienten-Beziehung eine vertrauensvolle, individuelle Begegnung zwischen zwei gleichberechtigten Menschen bleiben soll.

In einer gemäß §2 gelebten Arzt-Patienten-Beziehung ist es nicht möglich, dass der Arzt Behandlungen gegen den erklärten Willen des Patienten vornimmt. Eine Behandlung gegen den Willen des Patienten hat zwingend eine Zerstörung der Arzt-Patienten-Beziehung zur Folge.

Die MMR-Impfung hat sowohl in der Bevölkerung als auch in der Ärzteschaft eine hohe Zustimmung, so dass das Ausmaß des Schadens auf die Arzt-Patienten-Beziehung möglicherweise unterschätzt wird. Haben Menschen die eine andere Impfentscheidung treffen, als es die STIKO vorschlägt,  nicht ebenso ein Recht auf eine würdige und vertrauensvolle Arzt-Patienten-Beziehung, welche auf Menschlichkeit fußt? Ist es mit der ärztlichen Ethik und den Geboten der Menschlichkeit vereinbar vor dem aktuellen epidemiologischen Hintergrund in Deutschland bzw. Sachsen mit wirtschaftlichen Druckmitteln eine Masernimpfung zu erzwingen?

„(3) Eine gewissenhafte Ausübung des Berufs erfordert insbesondere die notwendige fachliche Qualifikation und die Beachtung des anerkannten Standes der medizinischen Erkenntnisse.“ Die SIKO selbst schreibt  im Sächsischen Ärzteblatt im Januar diesen Jahres, dass sich aus der Vorverlegung der MMR-Impftermine keine wissenschaftliche Begründung ergibt. Gleichzeitig kann die SIKO ihre eigenen, anderslautenden Impfempfehlungen im Bezug auf MMR gut wissenschaftlich begründen. Es ist mir nachvollziehbar, dass die Mitglieder der SIKO es vorzogen einem offenen Konflikt mit dem Gesetzgeber aus dem Weg zu gehen. Aber können wir Ärzte dazu schweigen, wenn wir unserer BO entsprechend arbeiten möchten?


(4) Der Arzt darf hinsichtlich seiner ärztlichen Entscheidungen keine Weisungen von Nichtärzten entgegennehmen.“

Meines Wissens nach sind die Mitarbeiter der SIKO im Gesetzgebungsprozess nicht zu Rate gezogen wurden. Das entstandene Gesetz führt nun in der Praxis dazu, dass Nichtärzte mir als Ärztin Handlungsanweisungen geben, die ich aufgrund meines Fachwissens nicht mittragen kann. Die Eltern der Kinder können in der Regel aufgrund ihres fehlenden medizinischen Hintergrundes die Tragweite einer MMR-Impfung zu einem medizinisch betrachtet ungünstigem Zeitpunkt nicht überblicken. Und selbst wenn sie die Bedeutung des Impfzeitpunktes erkennen, lässt ihnen ihre wirtschaftliche Not, welche sie von einer außerhäuslichen Kindesbetreuung abhängig macht, keinen Entscheidungsspielraum. Diese aus dem „MSG“ resultierende Situation kollidiert auch mit §2, Abs.1.

Paragraph 7 betont noch einmal das Recht des Patienten, eine empfohlene Maßnahme abzulehnen.

§7 Behandlungsgrundsätze und Verhaltensregeln

(1) Jede medizinische Behandlung hat unter Wahrung der Menschenwürde und unter Achtung der Persönlichkeit, des Willens und der Rechte des Patienten, insbesondere des Selbstbestimmungsrechts, zu erfolgen. Das Recht des Patienten, empfohlene Untersuchungs- und Behandlungsmaßnahmen abzulehnen, ist zu respektieren.“

Durch das geänderte Infektionsschutzgesetz werde ich gezwungen im Einzelfall §7 zu brechen. In der Situation einer Epidemie gab auch das alte Infektionsschutzgesetz nachvollziehbare Einschränkungen vor. Aktuell liegt in Deutschland aber keine Masernepidemie vor und lag auch besonders in Sachsen in den vergangen Jahren nicht vor.

Ich kann die Argumente, welche für eine möglichst flächendeckende Masernimpfung sprechen, gut nachvollziehen. Bei aller Zustimmung in der Sachfrage bezüglich der MMR-Impfung, sehe ich eine Einhaltung unserer ärztlichen ethischen Grundsätze, welche aus den Fehlern der Vergangenheit lernend, in der BO niedergeschrieben sind, als dringend notwendig an. Ich denke nicht, dass der Zweck die Mittel heiligt und bin überzeugt, dass unsere BO von uns Ärzten gerade in konfliktbeladenen Situationen Beachtung finden sollte. 

Ich bin mir darüber im Klaren, dass die Masern-Impfentscheidung immer Folgen für das Individuum und für die Bevölkerung hat. Wenn der Gesetzgeber mit Zwangsmaßnahmen bzw. sozialer Ausgrenzung den Konflikt zwischen Individuum und Gemeinschaft zu Gunsten der Gemeinschaft auflöst, spricht er dann nicht dem Individuum im Einzelfall sein Menschsein ab? Es ist für mich die Basis meiner ärztlichen Arbeit, dass ich in jedem, der von mir behandelten Patienten, einen in seiner Autonomie und Würde zu respektierenden Menschen sehe. Dazu gehört auch, wie es Paragraph 7 der BO fordert, das Selbstbestimmungsrecht des Patienten zu achten und zu respektieren.

In der Pressemitteilung der SLÄK schrieben Sie am 15.11.2019, dass Sie dieses Gesetz begrüßen. Die Presseerklärung ist verständlicherweise knapp gehalten und führt keine ethischen Betrachtungen an.

Deshalb frage ich Sie als ärztlichen Kollegen und Präsidenten der Sächsischen Landesärztekammer:

1. Wie bringen Sie die Presseerklärung der SLÄK zum „MSG“ mit der Stellungnahme des deutschen Ethikrates zu einer Impfpflicht vom 27.6.2019 in Einklang?

2. Wie kann ich gleichzeitig unserer Berufsordnung und dem geänderten IfSG Folge leisten?

3. Welche Lösung empfehlen Sie mir als Ärztin konkret, wenn mich Eltern mittels Unterschrift zur Impfung auffordern aber gleichzeitig mündlich deutlich äußern, dass die Einwilligung nur aus einer persönlichen Zwangssituation heraus erfolgt und in Wahrheit die Impfung zum gegenwärtigen Zeitpunkt abgelehnt wird?

Wenn ich die Impfung durchführe, missachte ich den erklärten Willen und die Autonomie des Patienten. Verweigere ich die Impfung unter diesen Umständen, erleide ich rechtliche Sanktionen, welche bis zum Entzug der Kassenzulassung gehen können.

Ich hoffe, Sie verstehen meinen Brief nicht falsch. Es liegt mir fern einen Disput über die Masernimpfung anzufangen. Allerdings werde ich tagtäglich mit dem o. g. schweren ethischen Konflikt konfrontiert und weiß mir keinen Rat, wie ich mich hier ethisch korrekt und gleichzeitig gesetzeskonform verhalten soll.

Ich bitte Sie hiermit, den Eingang meines Schreibens kurz zu bestätigen, gern per Email.  Bitte nehmen Sie sich dieses Konfliktes an und lassen Sie mir zeitnah Ihre Antwort auf meine Fragen zukommen.

Mit freundlichen Grüßen

Dr. med. Ingrid Heimke

Anhang

Masernfallzahlen und Impfdaten Sachsen/Deutschland

Stellungnahme des Vereins Ärzte für Individuelle Impfentscheidung zum Kabinettsentwurf zum „MSG“